von Barbara Bittner, erschienen am 13/14.12.2003 SZ, München
Immerhin nach zwei Jahren - nun ist sie da, die "Antwort auf die Pisa-Studie". Wie Jeanne Rubner und Bernd Dörries melden, haben die Kultusminister erste gültige Standards für den Mittleren Bildungsabschluss verabschiedet, die vom Schuljahr 2004/05 gelten werden. Laut Hessens Kulturministerin Karin Wolf sind die Standards ein "Meilenstein" auf dem Weg zu bundesweit vergleichbaren Leistungen. Aber sind einheitliche Bildungsstandards für Schüler, Eltern, Lehrer ein Grund zum Aufatmen, ein Grund zur Erleichtung und zur Freude?
"Eltern beraten Eltern", unter diesem Thema fand kürzlich an unserer Grund- und Hauptschule ein Elternabend statt. Eingeladen waren die Eltern der Viertklässler, die jetzt vor der schwer wiegenden Entscheiung stehen, die richtige Schule für ihr Kind zu wählen. Es wurde deutlich, dass bei den Eltern - trotz eingehender individueller Beratung durch den Klassenlehrer und durch den Besuch von Informationsveranstaltungen an Realschulen und Gymnasien - nach wie vor erhebliche Zweifel und Unsicherheiten bestehen. Diesen Entscheidungsprozess durch persönliche Erfahrungen mit dem Übertritt zu unterstützen, dazu waren an diesem Abend auch Eltern der fünften und sechsten Klassen der Hauptschule und des benachbarten Gymnasiums eingeladen. "Meine Tochter war in der Grundschule eine glatte Zweierschülerin. Jetzt, in der fünften Klasse Gymnasium, steht sie in den Hauptfächern zwischen Note drei und vier, Tendenz Note vier. Das ist für sie schwer zu verkraften." So lautet eine der vielen persönlichen Erfahrungen mit dem Nadelöhr Übertritt. Manch bittere Erfahrung wie Leistungsdruck, Versagensangst, Ausgegrenztsein wurden von den Eltern an diesem Abend offen ausgesprochen.
So informativ die Auskünfte der Lehrer beider Schularten auch waren (von der Realschule konnte leider kein Teilnehmer gewonnen werden), so wohltuend der Erfahrungsaustausch von den Eltern empfunden wurde, ihre Entscheidung, so war zu hören, wurde damit nicht leichter. Doch immerhin: "Geteiltes Leid ist halbes Leid." Dieses "Leid", es ist bedingt durch ein verfrühtes, unsoziales Ausleseverfahren, das auf einer Prognose von Fähigkeiten aufbaut, die - darin stimmen Lernpsychologen und Gehirnforscher überein - bei Zehnjährigen kaum möglich ist. "Ein begabungsgerechter und leistungsbezogener Übergang ist und bleibt eine Fiktion", meint Bundesbildungsministerin Edelgard Bulmahn.
Die jetzt beschlossenen schulformübergreifenden Standards werden sich nach meiner Meinung als Hauptschullehrerin dann als nützlich erweisen, wenn sie, anstatt die Auslese zu perfektionieren, "Schülern und Eltern helfen, zu verstehen, auf welche Fähigkeiten es ankommt und wie Jahrgangsstufen aufeinander aufbauen", wenn sie Lehrern Hilfen "für professionelles Handeln bieten, mit dem sie Heterogenität von Lernprozessen und Lernergebnissen begreifen und Lernpfade individuell begleiten können", wie es der internationale Pisa-Koordinator Andreas Schleicher formulierte.
Bildungsstandards - nicht "Teufelszeug", sondern "Wundermittel" - könnten somit ein erfolgreicher Schritt zu einer grundlegenden Reform unseres Schulwesens sein. Ein humanes Schulwesen, in dem - wie von der Bildungsministerin, von Lehrerverbänden, auch von der Unternehmensberatung McKinsey gefordert - Kinder bis zur sechsten oder achten Klase in heterogenene Leistungsgruppen gemeinsam lernen und individuell stärker gefördert werden. Dies zum Aufbau von Chancenungleichheit und zur Verbesserung der Leistungsfähigkeit.