Lehrer sein heißt, den Kindern ein Begleiter sein – Von der Freude an einem missachtetem Beruf
Von Barbara Bittner, SZ 20./21.4.2002
Ein Lehrer wird geboren, hat Ferien und stirbt – das alte Sprichwort stimmt nicht mehr, und auch die Vorstellung vom einstigen Traumberuf mit gesicherter Existenz und viel Freizeit bröckelt sichtbar in der öffentlichen Meinung. Lehrer heute sind, glaubt man dem, was man über sie liest und hört, restlos überfordert in ihrem "Höllenjob", allein gelassen in ihrer Rolle als "Löwenbändiger". Sind die "Verlierer im Klassenkampf". Alarmierende Statistiken über die ständig ansteigende Zahl krankheitsbedingter Entlassungen der Lehrer in den Frühruhestand belegen denn auch eindrucksvoll das Burn-out-Syndrom. Etwa ein Drittel der knapp eine Million Lehrer und Lehrerinnen in Deutschland fühlt sich beruflich ausgebrannt.
Im Gegensatz zu früher erlebe ich heute regelmäßig mitleidiges Bedauern, wenn ich mich als Lehrerin, noch dazu als Hauptschullehrerin einer neunten Klasse zu erkennen gebe. Wenn ich gar noch erwähne, dass mir meine Arbeit auch sehr viel Freude macht, ernte ich häufig ungläubiges Schmunzeln und Schulterzucken. Freude an meinem Beruf – trotz realer Belastung, trotz realer Schwierigkeiten, trotz realer Frustrationen – davon will ich erzählen.
Gefühle wie die der Goldmarie
Erster Elternabend zu Schuljahresanfang in der neunten Klasse Hauptschule. Ich begrüße die eintretenden Eltern, die langsam den Stuhlkreis in der Mitte des Klassenzimmers füllen. Da steht plötzlich, perfekt gekleidet und frisiert, Mile, qualifizierter Hauptschulabgänger 2001 und seit zwei Wochen Kfz-Lehrling, in der Tür. Wir begrüßen uns herzlich. "Ich will sie nicht stören", sagt er, "aber wir haben Ihnen etwas mitgebracht aus Kroatien, das will ich Ihnen nur geben". Aus der Hosentasche holt er ein in eine weiße Papierserviette gewickeltes Päckchen. Es ist eine kleine Muttergottes mit Krone auf einem handflächengroßen polierten Granitstein zum Aufstellen. Ich bin sprachlos, für einen kurzen Augenblick den Tränen nahe.
Da sind die Erinnerungen an das vergangene Schuljahr mit einer neunten Klasse (von 20 Schülern wachsen 14 ohne Vater auf). An einen Weg bergauf, bergab; gemeinsam zurückgelegt: das tägliche Büffeln und Pauken, Schlittenfahren mit der Patenklasse, Lebkuchen backen für den Adventskalender der SZ, der abendliche Besuch in der Hofpfisterei, die Interviews über die Nachkriegszeit, Besuch im Max-Planck-Institut, Abschlussfahrt nach Venedig, Baden im Starnberger See – es war Erleben von Gemeinschaft.
Auch Konflikte gab es, immer wieder. Mit Wutausbrüchen, gegenseitigen Vorwürfen und Beschuldigungen, Beleidigungen, Kränkungen. Und dann doch wieder ein aufrichtiges "Tut mir Leid, Entschuldigung". Aufmunternde Worte, sich umarmen, versöhnliche Gesten, wenn’s drauf ankommt, auch für mich. Ich sehe mich in dem Augenblick, als ich die Klassenzimmertüre wütend und verzweifelt hinter mir zuschlage, heulend auf der Bank vor dem Klassenzimmer sitze. Patrizia kommt, setzt sich neben mich, legt den Arm um mich und drückt mir meinen gläsernen Glücksstein (Geschenk eines Schülers nach Besuch einer Glasbläserei) zur Beruhigung in die Hand. Noch benommen kehre ich ins Klassenzimmer zurück, da hat Naza, die Klassensprecherin, die Sache schon längst im Griff und so geregelt, dass es wieder weitergeht.
Die alltäglichen Proteste, das ewige Wieso denn?, Warum denn? gehen an die Nerven. Manchmal weiß ich so klar, was ich will, dass ich mich rücksichts- und kompromisslos durchsetze, zum Beispiel bei der Bootsfahrt auf dem Canale Grande oder dem Besuch der Antonius-Basilika in Padua, wofür sich natürlich niemand außer meinem Kollegen und mir interessierte und der sich am Ende als doch recht interessant herausstellte. Protest gab es auch gegen meinen Vorschlag, am Schuljahresende als ein Zeichen der Dankbarkeit für ein gelungenes Schuljahr einen Besuch im Altenheim zu machen. Ich sehe Sabrina, Maurice, Alexander, Benjamin, wie sie bei blauem Himmel und Sonnenschein die Alten im Rollstuhl durch die Garten schieben (die brennende Zigarette dezent versteckend), wie Emine und Aysun in der Küche dem Koch die Hand geben, wie Basti, Dominik und Michael die Arbeit des erkrankten Hausmeisters übernehmen und im Park die heruntergefallenen Äste sammeln und auf einen alten Holzkarren laden.
Und dann der letzte Schultag; die bestickte Tischdecke mit den passenden Kopfkissen aus der Türkei, die Halskette aus Mekka, ein goldener Ring, den mir Naza von ihrem selbst verdienten Geld als Zimmermädchen zum Abschluss schenkt. Auch ich bekomme ein Zeugnis: "…hält zu dir in guten und in schlechten Tagen","…hat immer ein offenes Ohr","…gibt uns Halt". Dazu einen großen Blumentopf. Stolz und Glück über den erfolgreichen Schulabschluss liegen in den Gesichtern. Ich komme mir vor wie die Goldmarie aus dem Märchen. Mein Herz läuft über vor Dankbarkeit, diese jungen Menschen auf dem Weg hinaus ins Leben ein Jahr lang begleiten zu haben.
Glücksmomente des Vertrauens
Im Laufe eines Lehrerlebens kommt da so einiges zusammen an Glücksmomenten. Achte Klasse, Arbeitslehre. Die Schüler machen zwei Wochen lang ein Praktikum zur Berufsorientierung in einem Betrieb ihrer Wahl. Dort besuche ich der Reihe nach jeden Einzelnen. Unvergesslich der Augenblick als ich die Säuglingsstation im Pasinger Krankenhaus betrete. Da steht Greta im hellblauen Kittel, hält zufrieden einen Säugling im Arm, drückt ihn fest an sich. Greta, erst als Dreijährige adoptiert, konnte damals weder laufen noch sprechen, scheute jede Berührung. In der Schule hatte sie Lernstörungen, immer wieder gab es Konflikte mit den liebevollen Adoptiveltern, massiv in der Pubertät. Greta schafft den qualifizierten Hauptschulabschluss. Zwei Jahre später sitzt sie mir per Zufall in der S-Bahn gegenüber, auf dem Weg in die Stadt, ihr Diplom als Kinderpflegerin in die Hand zu nehmen
Zu Beginn des sechsten Schuljahrs verunglückt Andreainas Mutter tödlich bei einem Autounfall. Andreainas sehnlichster Wunsch, der Übertritt an die Realschule, scheitert daran, dass ich ihr die Note Zwei in Deutsch nicht geben kann. Warum ihr die Zwei nicht einfach schenken? Doch weiß ich genau, dass sie der geschenkte Sieg letztlich nicht weiterbringt. Sie sieht das ein und lernt mit überdurchschnittlichem Einsatz. Trotzdem plagen mich wochenlang Gewissensbisse. Endlich die glückliche Nachricht – Andreaina hat die Aufnahmeprüfung für die Realschule geschafft. Ich könnte zerspringen vor Freude.
Oder Sabine, bei der Zimmerkontrolle nach Mitternacht auf der Klassenfahrt. Entgegen ihrer erklärten Absicht, nicht an der Abschlussfahrt teilzunehmen, amüsiert sie sich prächtig mit ihren Zimmergenossinnen. Ihre ewige "Keiner liebt mich"-Nummer scheint ernsthaft zu schwanken. Oder die Theateraufführung im Altenheim. Alle 23 Schüler haben mitgewirkt als Spieler, Erzähler, Tontechniker, Kameramann. Matthias, mit Sprachfehler, hat den Zauberer gespielt, ohne auch nur einmal zu stottern. Oder die rote Rose an meinem Geburtstag auf meinem Pult. Sie ist von Jasmin, die gerade den Quali bestanden hat und jetzt eine Lehre als Floristin macht. Oder der Morgen, an dem Andreas auf mich zu kommt und gesteht, dass er Zeuge Jehovas ist, was er am Tag vorher in der Ethikstunde verleugnet hatte.
Oder als es zum Unterrichtsende läutet und im Trubel des allgemeinen Aufbruchs Delfina, eine ehemalige Schülerin, plötzlich im Klassenzimmer neben mir steht und mir ein Heft mit Gedichten schenkt, die sie in den vergangenen zwei Jahren geschrieben hat. Und das erleichterte Lächeln und ein Händedruck von Dejan. Ich stehe noch an der Tür, schaue ihm nach, wie er den Gang entlang geht auf dem Weg nach Hause. Nach Unterrichtsschluss hat er mich um ein Gespräch gebeten. "Kann ich mit Ihnen reden?" Wir sitzen uns gegenüber. Es ist ihm anzusehen, dass er völlig verstört ist. Er gesteht, seine Mutter geschlagen zu haben. Ich kann nichts weiter machen, als nur Zeit haben, zuhören.
Sieben auf einen Streich
Im Januar steht Didar, zierlich, mit großen dunklen Augen, mit ihrem Vater vor der Klassenzimmertür. Sie ist bei ihrer Mutter in der Türkei aufgewachsen und will jetzt bei ihrem Vater in Deutschland leben. Sie kann kein einziges Wort Deutsch. Doch sie liebt Musik und Tanz, das finde ich trotz meiner geringen Türkischkenntnisse heraus. Schon am nächsten Schultag tanzt sie zu türkischer Musik vor der Klasse. Die Sechstklässler sind so fasziniert, dass sie unbedingt mittanzen wollen. Wir schieben die Bänke zur Seite. Didar steht als Vortänzerin vorne, die anderen in Reih und Glied dahinter. Mit äußerster Konzentration versuchen sich die Jungen und Mädchen in bauchtanzähnlichen Bewegungen. Ach, macht das Spaß.
Glücksmomente, Sternstunden im Schulalltag – jeder Lehrer kennt sie, jeder hat sie erlebt. Schade, dass öffentlich kaum darüber berichtet wird. Und wenn von solchen Glücksmomenten im Kollegen- oder Freundeskreis erzählt wird, dann eher hinter vorgehaltener Hand. Falsche Bescheidenheit – oder ist es der Glaubenssatz "Selbstlob stinkt", den wir Lehrer da mit uns herumschleppen? Anstatt es zu machen wie das tapfere Schneiderlein, das seinen Erfolg "Sieben auf einen Streich" stolz nach außen trägt, sich damit selbst motiviert, stark macht für die bevorstehenden Abenteuer des Lebens, die es siegreich besteht.
Aus einem Kurs über NLP – Neurolinguistisches Programmieren, in der Pädagogik eine Methode über Bewusstseinstraining ganzheitlich, mit allen Sinnen wahrzunehmen und zu lernen – weiß ich, dass positive Erfahrungen, ins Bewusstsein geholt und "verankert", als Starkmacher in Krisensituationen spontan abgerufen werden kann. Das funktioniert in Sekunden und ist eine Möglichkeit, direkt die "Batterie wieder aufzuladen". Auf meinem Pult liegt deshalb neben dem Glücksstein aus buntem Glas mal eine Muschel, mal eine Kastanie, die ich, wenn es "eng" wird, in die Hand nehme, um dann automatisch tiefer durchzuatmen. Seit diesem Schuljahr steht da auch eine kleine Madonna aus Kroatien.
Schuljahresbeginn, kurz vor der ersten Lehrerkonferenz. Nach herrlichem Fahrradurlaub gut erholt, schaue ich auf meine neue Klassenliste. Mich trifft der Schlag – durch Neuanmeldungen während der Ferien ist die neunte Klasse auf 28 Schüler angewachsen, davon sind zwölf Schüler im zehnten Schulbesuchungsjahr. Ich spüre förmlich wie es mit meiner Energie und meinem Mut bergab geht. "Na und", sagt meine Tochter am Nachmittag, "zwölf mehr, die eine Chance haben, einen Schulabschluss mit deiner Unterstützung zu erreichen." So kann man es auch sehen. Wenigstens für einen Moment kann ich den Blickwinkel teilen. Als am nächsten Morgen die Schüler, ausgewachsene Jugendliche, die meisten einen Kopf größer als ich, zum ersten Mal das Klassenzimmer betreten, spreche ich mir diesen Satz innerlich vor, als Schutzwall gegen die Flut von aufkommenden Ängsten und Bedenken.
Vielleicht ist es dieser Schutzwall, der mich plötzlich sehen lässt, dass da junge Menschen vor mir sind, die ein Ziel vor Augen haben, die wissen, wie wichtig ein guter Schulabschluss ist, die bereit sind, dafür zu arbeiten. Und da sitzt auch Tobias, einer von den zwölf Sitzenbleibern, ein ausgewachsener Mann, den kenne ich noch als Erstklässler, wie er mit seinem roten Lockenkopf in der Pause über den Schulhof läuft. Sein Bruder Matthias war vor Jahren mein Schüler, und mit den Eltern hab ich mich damals schon so gut verstanden, die haben mich unterstützt, mir geholfen, wo sie nur konnten. Ein Schimmer von Zuversicht.
Hoffnungsschimmer, Glücksmomente – sind sie nur der Speck in der Falle "Schulstress", die zuschnappt und uns gefangen hält, bis wir uns irgendwann ausgelaugt und ausgebrannt ergeben? Ich bekenne mich dazu, dass ich von diesen Glücksmomenten zehre auch gegen den Frust der Anonymität und der menschlichen Missachtung von Seiten meines Arbeitgebers.
"Zukunftswerkstatt" nennen Hauptschullehrer eine neuere Unterrichtsmethode im Fach Arbeitslehre, die sie nützen, wenn es darum geht, Schülern die Berufsfindung zu erleichtern, indem sie sich, den Fähigkeiten und Neigungen entsprechend, konkrete Ziele stecken, auch Visionen für ihr zukünftiges Leben entwerfen. In diesem gibt es, bevor jeder Schüler einen konkreten Plan für sie unmittelbare Zukunft entwirft, die Fantasiephase. Da taucht plötzlich die gute Fee auf, die alle Wünsche, auch die noch so utopischsten, erfüllt.
Geben und Bekommen
Was würde ich mir wünschen von dieser guten Fee? Mit Sicherheit eine ganze Palette gesellschaftlicher und schulpolitischer Veränderungen, die nötig sind, die Mängel zu beheben: überfüllte Klassen, erhöhte Gewaltbereitschaft bei Schülern, Drogenmissbrauch, Leistungsstress, Demotivation, Konzentrationsstörungen infolge permanenter Reizüberflutung, Stundenausfall, Lehrermangel, praxisferne Lehrerausbildung, unzureichende Weiterbildung – Schlüsselworte, die das Defizit unserer Bildungslandschaft, die Schattenseite des Lehrerberufs nur allzu treffend beschreiben.
Das Feld der bildungspolitischen Maßnahmen ist weit. Wünschen würde ich mir aber für das "Hier und Jetzt", dass uns Lehrern und Wegbegleitern, die wir Impulse, Anregungen, Halt geben, trotz aller Belastung der Blick für die alltäglichen kleinen und großen Freuden erhalten bleibt. Dass wir mit beiden Füßen mitten im bewegten Fluss von Geben und Bekommen fest stehen und daraus immer wieder neue Kraft für unsere Arbeit schöpfen, auf die wir stolz sind. Dass wir uns die Zuneigung, Liebe für diese jungen Menschen bewahren, die sie uns mit dem kostbarsten Geschenk ihrer Zuneigung, ihrer Liebe so reichlich lohnen.